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#10 - Blick in den Keller - Der schmerzliche Kern Teil 2

Die Lebenslüge ...

 

Mit den Erkenntnissen über das autonome Nervensystem, dessen Regulierung und die Auswirkungen auf das Bindungsverhalten sehe ich nun auch die Beziehung zu meiner Mutter mit anderen Augen. Meine ambivalenten Gefühle in der Beziehung zu ihr lassen sich erklären. Ich habe es nicht gelernt "Nähe" mit einem "Gefühl von Sicherheit" in Verbindung zu bringen. Für mich bedeutet Nähe "etwas nicht Zuverlässiges", es bedeutet "allein gelassen zu sein". Deswegen bin ich immer wieder auf Abstand gegangen. Ich habe mir das alles nicht eingebildet. Ich brauche kein schlechtes Gewissen zu haben, und ich muss mich auch nicht schämen, dass ich mich meiner Mutter gegenüber so verhalten habe. Dass ich manchmal dachte, "ich bin nicht richtig" oder "anders als die anderen" ("die schlechte Tochter", "das schwarze Schaf"). Es sind Gefühle, die ihre Berechtigung haben und die "als Andrea zu mir gehören". Ich glaube, ich habe diese Gefühle nie wirklich an mich herangelassen. Im Gegenteil ich habe sie blockiert und abgelehnt. Mein entwickeltes Selbstbild, an das ich fest geglaubt habe ("Ich bin stark und ich bin unabhängig."), hat mir vermutlich dabei geholfen, alles Gefühlte unter den Teppich zu kehren. Auch mein Weltbild ("Das Leben ist anstrengend. Ich muss alles alleine machen.") hat seinen Beitrag geleistet. Zum Glück werden mir diese Zusammenhänge zunehmend bewusster und ich habe damit die Möglichkeit, an diesen übernommenen Abläufen zu arbeiten. Ich muss die Welt nicht so hart sehen. Allein diese Einsicht ist bereits schön, und zugleich aber auch bitter. Es schmerzt, dass so viel Lebenszeit vergangen ist, um an diesen Punkt zu gelangen. Ich bin traurig über all die verpassten Lebenschancen, die ich mit anderen "Brillen" vielleicht hätte haben können. Ich bin in Wahrheit keine Insel ...

 

Ich fühle mich fremd und allein gelassen, jetzt wo das Kartenhaus zusammengestürzt ist, das bisher mein zu Hause war. Nicht wissend, wer ich eigentlich bin, wer ich wirklich bin. Zu viele Gefühle aus zu vielen Richtungen auf einmal.

 

Umgang mit dem Schmerz ...

 

Etwas in mir wünscht sich, bedingungslos geliebt zu werden. Dieser Wunsch ging immer an meine Mutter. Gefühlt habe ich diese Liebe (um meiner selbst willen) von ihr nicht bekommen. Das entspricht nicht der Wahrheit, wie ich jetzt erkenne, bzw. gibt es Gründe und Erklärungen, warum ich es so empinde/ empfunden habe. Ich denke, dass im Grunde auch meine Mutter ein traumatisiertes Nervensystem in sich trägt und insoweit nur das weitergeben konnte, was sie selber erlebt hat. Schließlich war sie als Baby meine erste Bezugsperson und irgendetwas scheint schief gelaufen zu sein bei meiner frühkindlichen Stressbewältigung. Davon gehe ich inzwischen aus. Zumindest habe ich es nicht gelernt mit emotionalem Sress umzugehen. 

 

Mein Impuls ist, dass meine Mutter all das doch auch verstehen muss. Endlich gibt es sie, die lang ersehnten Gründe für mein ambivalentes Verhalten in unserer Mutter-Tochter-Beziehung. Doch meine Erklärungsversuche über das Nervensystem und die Zusammenhänge verlaufen ins Leere. Zu abstrakt ist für sie das ganze Thema. Zu viel Psychokram. Ich traue mich nicht wirklich offen über alles zu sprechen, so wie ich es hier beschreibe. 

 

Doch Schuldzuweisungen sind am Ende auch gar nicht mehr das Thema. Obwohl sich all die Erkenntnisse zunächst noch sehr schmerzhaft anfühlen, kann ich langsam, Schritt für Schritt, immer mehr erkennen, dass die Situation auch die Chance für einen Wandel enthält und ich nach vorne schauen kann. Aber wie funktioniert das Loslassen der Vergangenheit und der schmerzhaften Erinnerungen? Was kann ich selber dazu beitragen? Lässt der Schmerz mich los? Oder ich ihn? Mit diesen Gedanken und Fragen beschließe ich im Dezember 2020, meine Geschichte aufzuschreiben.

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