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#9 - Blick in den Keller - Der schmerzliche Kern Teil 1

Das Trauma ...

 

Meine Erkenntnisse schreiten weiter voran. Inzwischen ist mir, als ob ich auf ein großes, vor mir liegendes Puzzle schaue, dass sich vor meinen Augen Stück für Stück immer weiter zusammensetzt. Langsam scheint alles einen gewissen Sinn zu haben und vieles auch seinen Platz zu finden. Und trotzdem ist da noch immer ein bestimmtes Puzzlestück, das fehlt. Ich spüre, dass ganz tief in mir, noch etwas Unentdecktes ist, das darauf wartet, endlich befreit zu werden. Es ist der schmerzliche Kern, der hinter dem Ganzen steckt, eine Art Grundangst, die ich spüren, aber nicht greifen kann.

 

Die Erkenntnis kommt kurz vor Weihnachten, als ich einen Artikel im Internet lese, in dem es u.a. um Glaubenssätze geht. Ich lese einen bestimmten Satz („Vom Schmerz stark sein zu müssen“), der tief in mir etwas berührt. Und ich weiß sofort und instinktiv, dass diese Worte etwas mit mir zu tun haben und möglicherweise der Ursprung von allem sind.

 

Niemand ist da, ich bin ganz allein.

Ich verlasse mich auf niemand und ich schaffe es allein.

Es ist das Gefühl, zurückgelassen zu sein. Sich „ohne Netz und Boden“ zu fühlen.

Es ist die Angst, völlig allein zu sein.

Und es ist der ewige Schwur, dafür zu sorgen, dass dies nie wieder passiert.

 

Diese Worte steigen aus meinem Inneren empor und dringen in mein Bewusstsein. Dahinter steckt eine sehr tief sitzende, sehr körperlich empfundene Angst. Diese Angst ist diffus und hat gleichzeitig sehr viel Kraft. Gefühlt geht es um alles oder nichts, fast wie eine Art Todesangst. Vermutlich kommen diese Worte von einem meiner verletzten inneren Anteile. Von welchem weiß ich noch nicht. Die Worte wirken wie schwere Ketten, wie ein Fluch, der mich fest im Griff hat. Plötzlich verstehe ich mein Verhalten der Vergangenheit. Ich sehe, dass gewisse Situationen, die immer wieder geschehen, im Grunde darauf beruhen, dass ich diese Überzeugungen in mir trage.

 

Wie oft habe ich meine Unabhängigkeit, meinen Rückzug verteidigt? Das Alleinsein beschworen? 

Wie oft habe ich damit mein Innerstes bekämpft? (Meine Sehnsucht nach Halt und Geborgenheit. Mein Bindungsbedürfnis. Aber auch meinen Schmerz, dies alles nicht bekommen zu haben.)

Anstatt mit mir selbst in Verbindung zu gehen und Liebe zuzulassen, bin ich weggelaufen. Wieder und wieder und wieder ...

 

Diese Muster haben bis jetzt mein Leben bestimmt und meine Einstellung (mir selbst und auch dem Leben gegenüber) stark beeinflusst. Wie ein nicht endender Kreislauf. Und nun habe ich zum ersten Mal das Gefühl, von außen auf das ganze Konstrukt zu schauen und deutlich zu erkennen, dass ich mich mit meinen Mustern auf dem Holzweg befinde. Ich spüre, dass da ein traumatisierter Teil in mir ist, der sich so allein fühlt und immer wieder seine Geschichte erzählt, in der Hoffnung, endlich gefunden und erlöst zu werden.

 

Der Überlebensmodus ...

 

Wie konnte dies geschehen? Es hat mit der Entwicklung des frühkindlichen Nervensystems zu tun und der Tatsache, dass sich dieses anfangs noch nicht von alleine regulieren kann. Als kleiner Mensch sind wir auf die sogenannte Co-Regulation durch unsere Bezugsperson angewiesen. Die erste Bezugsperson, zu der wir eine nahe Bindung aufbauen, ist meist unsere Mutter. Durch sie sollten wir auf non-verbaler, emotionaler Ebene lernen, unser Nervensystem zu regulieren und damit den Zustand von Sicherheit zu erlangen. Wenn solch eine emotionale Bindung seitens der Bezugsperson aus unterschiedlichen Gründen nicht gelingt, kann es passieren, dass wir als Baby in einer Stress-Situation "stecken" bleiben. Eben dann, wenn eine entsprechende Co-Regulation nicht stattfindet. Es kann schon allein die Erfahrung ausreichen, dass wir als Baby zu lange schreien mussten, bevor wir die in diesem Moment so notwendige Nähe und Geborgenheit (Sicherheit!) erfahren haben. Oder dass wir nachts aufwachen und es ist niemand da, um uns in den Arm zu nehmen und zu trösten. Ohne äußere Hilfe wird unser Bedürfnis nach Sicherheit dann nicht erfüllt und die Situation als auswegslos (traumatisch) empfunden. Eine positive Bindungserfahrung haben wir somit nicht gemacht.


Der menschliche Körper besitzt für solche Fälle ein ziemlich ausgeklügeltes Schutzsystem, das instinktiv anspringt, wenn wir in Gefahr geraten und uns aktiv keine Bewältigungsstrategien wie z.B. Kampf oder Flucht zur Verfügung stehen. Um den überwältigenden Schmerz in der Angst- und Ohnmachtssituation und die damit verbundene Übererregung nicht spüren zu müssen, werden diese abgespalten und in Fragmenten im Unterbewusstsein abgelegt. Dort geraten sie in Vergessenheit. Dieser Mechanismus wird Dissoziation genannt und außer diffusen Körperempfindungen gibt es keine bewussten Erinnerungen an die Situation. Dies geschieht automatisch und von ganz allein. Es ist ein evolutionärer Überlebensmodus auf Stammhirnebene, den alle Menschen in sich tragen.  

 

Im Prinzip ist das eine gute Sache, um bei Gefahr überleben zu können. Doch die eigentliche emotionale Verletzung ist damit nicht wirklich im Sinne einer Erfahrung oder einer Erinnerung verarbeitet. Sie schlummert als Gefühls- oder Empfindungsfragment solange im Verborgenen, bis sie irgendwann nicht mehr länger unterdrückt werden kann und sich in ihrer ganzen Intensität zeigt. Das ist der Moment, in dem uns bewusst wird, dass wir traumatisiert sind. Oft können dafür Lebensumbrüche oder größere Veränderungen Auslöser sein (bei mir war es die Geburt meiner Tochter). Wir beginnen dann in uns zu forschen, folgen einem inneren Ruf oder landen mit einer Depression oder ähnlichen Diagnosen beim Psychotherapeuten, um der Sache auf den Grund zu gehen.

 

Stressregulation und Bindungsverhalten ...

 

Später iErwachsenenalter kann es zu diversen Traumafolgen kommen. 


Die emotional belastende Situation wurde unverarbeitet, verzerrt und zersplittert abgespeichert (quasi "eingefroren"). Diese Fehlspeicherung ist Teil unserer heutigen Identität (traumatisierter innerer Anteil). Die im Körper gehaltene Stress-Energie kann im Hier&Jetzt jederzeit abgerufen werden. Meist wenn wir uns in einer (ähnlichen) Stresssituation befinden (die mit Bindung und Nähe zu tun hat). Wir spüren dann erneut all diese unangenehmen überwältigenden Gefühle oder haben andere körperliche Symptome. Es fühlt sich sehr real an. Unser System weiß in diesen Momenten jedoch nicht, dass wir inzwischen „groß“ und „erwachsen“ sind und die ursprüngliche Bedrohung längst der Vergangenheit angehört. Die Situation, in der dies geschieht, muss objektiv betrachtet auch gar nicht gefährlich sein. Entscheidend ist, dass das autonome (konditionierte) Nervensystem sie als unsicher einstuft. 


So kann es sein, dass wir im Laufe des Lebens in einen chronischen Zustand der dauerhaften Anspannung und inneren Unruhe geraten. Meist sind uns diese Zusammenhänge gar nicht bewusst, wir wundern uns nur, warum wir so schlecht abschalten können oder stellen fest, dass uns Entspannung so schwer fällt. Außerdem kann es Auswirkungen auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen haben. So entwickeln wir einen vermeidenden Bndungsstil und interpretieren "emotionale Nähe" als Gefahr sowie "emotionalen Rückzug" als Sicherheit. Diese verdrehten Überzeugungen steuern unser Bindungsverhalten. Dahinter verbergen sich Schutzmechanismen, die nicht unsere wahren Bedürfnisse bedienen sondern allein den Zweck verfolgen, uns vor dem weggesperrten Schmerz zu schützen, den wir einst empfunden haben. Solange unser Nervensystem den Zustand von Sicherheit nicht kennt, kann das Bedürfnis nach Sicherheit nicht mit Bindung und Nähe erfüllt werden. Authentische, ehrliche und vertrauensvolle Begegnungen werden damit zum Problem.Wenn uns etwas zu nahe rückt, werden wir starr und ziehen uns zurück. Wir dissoziieren.

      

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